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Einführung zur Ausstellung
„Wurstpaket im Basislager“ im Kunstverein Unna, Juni 2008,
gehalten von Valentina Vlasic M.A.

Sehr geehrte Damen und Herren,
aller Anfang mit einem Zitat: „Ich [...] manövriere uns“, beschreibt Iris Bahr in ihrem Backpacker-Bestseller „Moomlatz" ihre Ankunft am internationalen Flughafen von Bangkok, „durch Menschenmassen und Buden mit getrocknetem Fisch, vorbei an buddhistischen Mönchen, herrenlosen Hunden, Raubkopien-Musik-Verkäufern und Ständen mit Sportbekleidung von Calvin Klein."[1] Eine Romansituation, die mir in den Sinn kam, als ich die Einladungskarte zur neuen Ausstellung von Thomas Schiela zum ersten Mal in Händen hielt. Sie zeigt das Detail seines großformatigen Aquarellbildes „Bangkok street kitchen", das im Nachreflex seiner Thailand-Reise im Januar 2008 entstanden ist. Das Gemälde zeigt eine abendlich-nächtliche Massenszene in Bangkok: Junge Menschen, die durch Schuluniformen als Schüler identifiziert werden können, sitzen in Grüppchen vor einer Art Straßenimbiss auf roten und blauen Plastikstühlen. Die Straßenatmosphäre ist durch den gut ein Drittel des Bildes füllenden dunklen Asphalt und zwei prominent platzierte Kanaldeckel augenfällig. Es herrscht Hochbetrieb, alle Dargestellten gehen einem geschäftigen Treiben nach. Das Motiv ist eindeutig urban, der gewählte Bildausschnitt ist begrenzt, liefert jedoch ausreichend Information, um den fiktiven Rest erahnen zu können. Durch die bunte Farbigkeit der leuchtenden Reklameschilder schwingt der Szenerie eine kitschig-romantische Leichtigkeit und Sorglosigkeit mit, die dem Betrachter das Bild eines Landes im Wirtschaftswachstum, fernab historischer Traditionen suggeriert. Der ungezwungene, periphere Charakter wird durch die Straßensituation mit billigen Plastikstühlen verstärkt, die für herkömmlichen Europäer die Assoziation mit Idealen der Rucksackkultur und Hippie-Bewegung der 1960er und 1970er auslöst. Der Rucksackreisende, neudeutsch „Backpacker" oder „Drifter", der individuell reist, sich treiben lässt und über einen eigenen Lebens- und Konsumstil verfügt. Er bereist fremde Länder und lernt ferne Kulturen kennen, mit denen er subjektive Erfahrungen und Erlebnisse teilt. Da die Geldbörse eines Backpackers immer schmal ist - so will es das Klischee - steigt er ab in billigen Hotels und isst in günstigen Straßenlokalen - womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei Schielas Gemälde angelangt wären, „Bangkok street kitchen".

Die künstlerische Mimesis von „Bangkok street kitchen" verliert sich in dem dreiteiligen Triptychon „Thai - 2 days per slide", das uns in einen wahren Mikrokosmos asiatischer Eigentümlichkeiten entführt: In einer, wie ich sie nenne, „geordneten Unordnung", ästhetisch ansprechend arrangiert, offeriert uns Schiela prägende Ereignisse und Eindrücke seiner Thailand-Reise. Zu sehen sind Menschen und landesübliche Lokalitäten sowie Accessoires: eine Blumengirlande, die Fremden zum Empfang übergeworfen wird, ein Dämon des Nationalepos Ramakien, thailändisches Kitsch-Porzellan oder ein Essensset im Stahlkörbchen, das uns die asiatischen Versionen von Maggi, Tomatenketchup und Salz näher bringt. Die sogenannte „geordnete Unordnung" wird hervorgerufen durch die unterschiedlichen Bildmotive, die teils vertikal, teils horizontal oder gänzlich am Kopf stehend eingeschoben werden - wodurch sich das Triptychon in vielerlei Variationen anordnen ließe. Die heute gewählte Form zeigt uns ein Selbstporträt des Künstlers und Freunde von ihm, die etwa auf der Seite liegen, eine überdimensionale „Beerlao"-Flasche im Mittelbereich, die den Künstler fast zu erschlagen droht und ornamentale Wandfriese von Angkor Wat, die sich im mittleren Teil von unten, im rechten von links hinein in das Bild schieben.

Diese erst jüngst entstandenen Thailand-Bilder sind eine konsequente Weiterentwicklung früherer Arbeiten, die die gleiche Lässigkeit und Zwanglosigkeit ausstrahlen, aber beim sogenannten „Moers Festival" entstanden sind, einem Festival für improvisierte und experimentelle Musik, das jährlich abgehalten wird und 2008 zum 37. Mal stattgefunden hat. Schiela hat es über mehrere Jahre immer wieder besucht. Die daraus hervorgegangenen Bilder zeigen Momentaufnahmen cooler, jugendlicher Sorglosigkeit, ein kommunenartiges, aber durchaus attraktives Lebensgefühl junger, individueller Menschen, die rauchen, Bier trinken, lässige Fischerhüte tragen, sowie Converse-Schuhe, Jägermeister-T-Shirts und Schlabberhosen. Schiela präsentiert eine Jugendkultur, die entgegen alltäglicher Konvention lebt und die das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit eint. Seine Motive gleichen sogenannten „Film Stills", festgehaltenen Augenblicken mit einer Kamera. Und der Begriff ist äußerst treffend für seine Arbeitsweise: Schiela, selbst Teil dieser Jugendkultur, bewegt sich in seinem alltäglichem Milieu. Und bietet sich ihm ein Motiv, so hat er stets zum richtigen Zeitpunkt seinen „Skizzenblock" dabei: seine Kamera, die ihm im Bruchteil einer Sekunde einen Schnappschuss liefert und das gewünschte Motiv einfriert. Aus der vorhandenen Aufnahme wählt Schiela schließlich einen Ausschnitt, der für ihn über das gewisse Quäntchen Spannung verfügt und somit würdig ist, von ihm abgebildet zu werden. Das Motiv wird dann an die Wand projiziert, früher per Diaprojektor, heute - eine Qualitätssteigerung nach eigener Aussage - mithilfe eines digitalen Beamers. Im letzten Schritt setzt Schiela das Bildsujet auf einer großformatigen Leinwand in ein Aquarell um, photorealistisch, wodurch er schon mal mehrere Monate an einem einzigen Gemälde arbeiten kann.

Zutiefst ungewöhnlich ist, dass er dabei auf Holz gespanntes Leinen als Bildträger für ein Aquarell wählt, verbindet man mit dem Medium doch immer leichte, fragile Malgründe. Dementsprechend durchscheinend und fluffig wirken seine Gemälde bei näherer Betrachtung. Nicht umsonst lud mich der Künstler bei ersten Gesprächen rätselhaft-verschwörerisch zu einem Besuch in seinem Atelier ein, „guck' sie Dir erst von nahem an", war seine einzige geheimnisvolle Andeutung. Und er hatte Recht, richtig begreifen lässt sich der Begriff „Aquarell auf Leinwand" erst, wenn man seine Gemälde in natura aus der Nähe sieht: Mit großer Behutsamkeit und Geduld werden Pinselstrich an Pinselstrich aneinander gereiht und ergeben so erst ein lebendiges Ganzes. Der nächste Strich wird immer erst dann angesetzt, wenn der untere trocken ist. „Wunderbar", sagt Schiela, dem diese Technik am liebsten ist, kann er doch mit einem Wisch ihm missfallende Stellen entfernen und nötigenfalls von neuem beginnen.

Figuration und künstlerische Mimesis spielen also eine stabile Konstante im Schaffen des Thomas Schiela. Auch deshalb sind seine Bilder jung, aufregend und in ihren Formaten äußerst monumental, im musealen Innenraum benötigen sie gesamte Wände, um zur vollen Entfaltung zu gelangen und wirken zu können. Sie sind Zeugnisse eines individuellen Lebensmilieus, die voll und ganz auf die Gegenwart bezogen sind. Kurzweilig-harmlose Szenerien (und hier ähnelt er etwa dem Bildhauer Stephan Balkenhol) werden bei Schiela zu Gemälden monumentaler Größe und übersteigerter Realität. Im Stil der dabei äußerst emotionsneutralen und konzentriert betriebenen Beobachtungsgabe ähnelt er etwa Thomas Ruff der 1980er und 1990er Jahre oder gar Franz Gertsch in seiner „Silvia"-Serie.

Interessant ist, dass kaum eines der Gemälde von Schiela in einer historischen Referenz entstanden ist, eine große Ausnahme bildet die Ophelia-Reihe, von der „Ophelia IV" in dieser Ausstellung zu sehen ist. Ophelia ist eine tragische Figur, eine „femme fragile", aus Shakespeares Tragödie „Hamlet", die aus Kummer wahnsinnig wird und im Fluss ertrinkt. Auf dieser Figur basierend entstand 1852 das gleichnamige Gemälde von John Everett Millais, das die Akteurin kurz vor dem Ertrinken mit Blumenkranz, geöffnetem Mund und starrem Blick im Fluss treibend zeigt.
Attraktiv und so ganz und gar dem individuell-jungem Denken Schielas zugehörig ist, dass jedoch nicht dieses kunsthistorisch relevante Bild den letzten Ausschlag für dieses Kunstwerk Schielas gab, sondern ein Musikvideo, das das Sujet ästhetisch aufgreift. Nick Cave singt 1995 mit Kylie Minogie das wildromantische Duett „Where The Wild Roses Grow", im dazugehörigen Video ist die Minogue als wunderschöne singende Wasserleiche zu sehen.
Entgegen dem leichten Grauen, der einem beim Anblick der Millaischen Ophelia entgegenschlägt, erscheint Schiela's Variation gelöst und erleichtert. Seine Ophelia scheint nicht langsam hinabzusacken in die Tiefen der Fluten, nein, sie reckt den Kopf - trotz geschlossener Augen - noch in die Höhe, um atmen und leben zu können.

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Valentina Vlasic

[1] Iris Bahr, Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, 2. Auflage, München 2007