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Einführung für den Katalog Wasser und Wiese erschienen zur gleichnamigen Ausstellung der Galerie Ahlers, Göttingen, 2010

Die Malerei von Thomas Schiela. Drei Lesarten und ein P.S.
Dr. Roland Mönig, Direktor des Saarlandmuseums

Thomas Schiela ist Maler. Von Beginn seiner künstlerischen Laufbahn an hat er sich dem figürlichen Bild verschrieben. Seine Arbeiten mit ihren alltäglichen Motiven sind Zeugnisse unserer Zeit und seiner Generation. Im Folgenden schlage ich drei Lesarten für seine Arbeit vor.

1. Thomas Schiela malt die Photographie. Er steht damit in einer langen Reihe von Malern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich mit der Beziehung zwischen dem von der Hand und dem vom Licht selbst gemalten Bild beschäftigen. Wenn man unter den arrivierten Zeitgenossen nach Vergleichen sucht, wird man vielleicht zuerst an den Amerikaner Chuck Close oder den Schweizer Franz Gertsch denken, die beide gleichsam künstlerische Vaterfiguren für Schiela sind. Wie Gertsch und Close malt Schiela stets seine eigenen Photos, und in aller Regel handelt es sich um dokumentarische, nicht inszenierte Bilder. Die Motive stammen aus seinem unmittelbaren Umfeld, aus seiner Lebenswelt; zumeist sind es junge Menschen, die er darstellt.

So ehrlich Schiela im Hinblick auf das Motiv ist, so ehrlich ist er im Hinblick auf dessen Darstellung. Die Art und Weise, wie das Licht um die Gestalten spielt oder in der Linse sich bricht, wie der Raum durch ein Weitwinkelobjektiv gestreckt oder durch ein Teleobjektiv gestaucht wird - all dies sind unübersehbare Hinweise auf den photographischen Ursprung seiner Bilder. Und wie es sich für Moment- und Amateuraufnahmen gehört, findet man auch reichlich schiefe Horizonte, Verzeichnungen, Verwacklungen, Verwischungen und durch das Blitzlicht erzeugte rote Augen. Thomas Schiela malt solche Fehler, die auf die mangelhafte Beherrschung der photographischen Techniken hinweisen, nicht nur mit der größtmöglichen Akkuratesse, sondern auch ganz offensichtlich mit höchstem Vergnügen. Was für den Photographen ein ärgerliches Manko ist, bedeutet für den Maler eine Herausforderung, eine Chance, neue Kompositionsweisen und Farbklänge zu entdecken. Die Unvollkommenheiten der Photographie machen es möglich, die Grenzen der Malerei neu abzustecken.
Die photographischen Vorlagen, deren Schiela sich bedient, mögen einen Moment (den Bruchteil einer Sekunde) festhalten und in der Regel vorab nicht kalkulierbare Zufallskonstellationen zeigen. Aber sobald der Maler sie bewusst aus einem großen Fundus aussucht und sobald er bestimmte Ausschnitte aus ihnen wählt, werden sie zu Kompositionen, die in sich schlüssig sind. Schielas Denken über Bilder ist insofern durchaus dem von Edgar Degas verwandt, der als einer der ersten Maler systematisch Ertrag aus der am Ende des 19. Jahrhundert noch jungen Technik der Photographie zu ziehen wusste. Wenn Degas freilich seine Bilder komponierte, als ob es Momentphotographien seien, so überträgt Schiela mit Hilfe eines Projektors tatsächlich Momentphotographien eins zu eins in Malerei. Das eigentlich Erstaunliche dabei ist, dass Schielas Bilder sich wie selbstverständlich einreihen in kunsthistorische Traditionen. Wer etwa seine Darstellungen des Moers Festivals betrachtet, kommt nicht umhin, sie assoziativ in eine Linie mit den bedeutenden Gruppenbildern der europäischen Kunstgeschichte zu stellen, von Raffaels „Schule von Athen" bis zu Seurats „Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte". Auf den Photos, von denen Schiela ausgeht, herrscht der blanke Zufall, aber wenn er sie malt, wenn er sie in das Rechteck seiner Leinwand einpasst und mit dem Pinsel übersetzt, präpariert er aus ihnen heraus, was überzeitlich gültig ist. Da schließen die Köpfe der auf einer Wiese lagernden Menschen sich wie von selbst zum Fries zusammen, zeigen sich die ihren disparaten Bewegungen unterliegenden Rhythmen und treten die Farben ihrer Kleider zu Akkorden zusammen.

2. Thomas Schiela malt das Licht. Er versteht es, auf frappierende Weise das Licht und seine Wirkungen einzufangen. Seine Malerei ist somit „Lichtzeichnung" (nichts anderes heißt ja das aus dem Griechischen abgeleitete Wort „Photographie") noch in einem erweiterten Sinn. Mit Hilfe des Lichtes macht er selbst aus dem Banalsten, aus Motiven, die belang- und bedeutungslos zu sein scheinen, noch ein visuelles Ereignis.
Schiela malt das Sonnenlicht, wie es Körper und Kleidung modelliert, wie es Dunst und Rauch durchdringt - oder wie es Bierkästen aus farbigem Plastik zum Leuchten bringt. Seine Arbeiten zeigen das sommerliche Licht des Niederrheins („Moers Festival") oder das kühle Licht über dem IJsselmeer bei wechselhaftem windigem Wetter („lot.jonn") ebenso authentisch wie - auf „Angkor, Cambodia", 2008, aus der neuen Reihe der Fernost-Bilder - das warme exotische Licht des Fernen Ostens, sein Flirren auf den ornamentierten Mauern eines Tempels oder seinen Widerschein auf den Sonnenschirmen der Touristen, die diesen legendären Ort besuchen.
Auch das künstliche Licht von Glühbirnen, Neonröhren und Leuchtreklamen findet Eingang in Schielas Malerei, besonders eindrucksvoll auf den Bildern mit Motiven aus dem Nachtleben Bangkoks: das Licht auf den Straßen, in den Bars und Restaurants. Verwegene Farbklänge ergeben sich dabei, eigentümliche, gleichermaßen unterkühlt wie schwül wirkende Harmonien aus Violett und Hellgrün und Rosa. Auf einem Bild hängen unter Sonnenschirmen einzelne leuchtende Glühbirnen, die die Unterseiten der Schirme mit ihren gelben, blauen und roten Segmenten so grell beleuchten, dass man meinen könnte, es gehe darum, gleichsam eine kleine Farbenlehre zu formulieren. Andere Arbeiten, gemalt nach stark verwackelten Aufnahmen, steigern das Leuchten der dicht an dicht wie Perlen an einer Schnur aufgereihten bunten Birnchen von Girlanden zum psychedelischen Flirren. Auf einem Bild des Jahres 2005 („Moers Festival eins") malt Schiela sogar das Blitzlicht eines Photoapparats: Mit gnadenloser Härte reißt es für eine sechzigstel Sekunde die Dunkelheit der Nacht auf und schält - um den Preis extremer Verflächigung - das Gesicht eines jungen Mannes aus ihr heraus.
Wenn das Licht auf Thomas Schielas Bildern von derart herausragender Bedeutung ist, dann liegt das nicht zuletzt daran, dass es sich samt und sonders um Aquarelle handelt. Sie mögen auftreten in den Formaten und mit dem Anspruch von Ölgemälden, aber sie werden - genau wie Aquarelle eines James Mallord William Turner oder Emil Nolde, um zwei wegweisende Virtuosen dieser Technik im 19. und 20. Jahrhundert zu nennen - gemalt mit in Wasser verdünnten Pigmenten, die, sobald sie auf dem Malgrund (einer weiß grundierten Leinwand) aufgetrocknet sind, das Licht dieses Grundes durchscheinen lassen. Schielas Arbeiten sind schon deshalb mit Licht geradezu gesättigt. Tiefe Töne lassen sich nur durch wiederholtes Lasieren erzielen, wobei der Maler genau kalkulieren muss, welche Farben er wie oft übereinander legen kann und welche Wechselwirkungen sich dabei ergeben. Ein Fehler - und das Bild ist verdorben, denn im Aquarell sind alle aufgetragenen Farben transparent. Der Arbeitsprozess selbst ist mithin an jeder Stelle des Bildes ablesbar. Korrekturen sind praktisch unmöglich. Die Aufgabe wird dadurch umso delikater, dass Schielas Ausgangspunkt stets ein Photo und sein Ziel ein realistisches Bild ist.

3. Thomas Schiela malt die Malerei. Mit seinen großformatigen Aquarellen auf weiß grundierter Leinwand stößt Thomas Schiela vor das angestammte Terrain der Ölmalerei. Seine Arbeiten widersetzen sich der Zumutung an das Aquarell, es habe handlich und intim zu sein, um - ausgelegt auf einem Tisch oder mit Passepartout gerahmt - nur aus nächster Nähe studiert zu werden. Schielas Bilder sind keine schnell und mit leichter Hand gemachten Notate, bloße Vorbereitungen auf das später folgende eigentliche Werk, ein repräsentatives Ölgemälde. Wenn für Turner beispielsweise das Aquarell ein - wenn auch enorm wichtiger - Schritt auf dem Weg zum gültigen Bild ist, so ist es für Schiela selbst das Ziel, und um es zu erreichen investiert er viel Zeit - jedes Bild beansprucht ihn mehrere Wochen. Schiela arbeitet nicht für die Schubladen eines Graphikschrankes, sondern für die Wand. Seine enormen Aquarelle dominieren dank der Intensität ihrer Ausstrahlung leicht ganze Räume und verlangen nicht nur nach intensiver Betrachtung, sondern nach einer körperlichen Reaktion. Wer ihnen gegenübertritt, wird feststellen, dass sie den Blick geradezu magisch ansaugen, ihn einladen, sich in grandios gemalten (manchmal auch: grandios angedeuteten) Details zu verlieren - und im autonomen Fließen der Farbe. Im nächsten Augenblick aber tritt man unweigerlich wieder zurück, um das Ganze zu überschauen, denn nur aus der Distanz erschließt sich die Bedeutung des einzelnen Pinselzugs. Ein unabschließbares Wechselspiel von Nähe und Ferne.
Eine von Schielas jüngsten Arbeiten, „Thai, 2 days per slide", 2008, macht genau diese Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen explizit zum Thema. Es handelt sich um eine gemalte Collage - drei jeweils quadratische Leinwände, die zusammengefügt eine Komposition mit den Maßen 165 x 495 cm ergeben. Neben- und übereinander zeigt sie disparate Eindrücke einer Reise nach Asien: Menschen in Bars und am Swimmingpool, einen von Palmen gesäumten Strand, Bier- und Soßenflaschen, Details von historischen Tempeln und Skulpturen, einen Blütenkranz ... Totale und Close-up stehen einander unvermittelt gegenüber, trotzdem fällt das Bild nicht auseinander. Die Malerei selbst, die Ponderation der Farben und Formen und die Präzision des Pinsels, hält es zusammen.
Wenn die Technik der Ölmalerei traditionellerweise für das Festgefügte steht und Dauerhaftigkeit suggeriert, so ist die des Aquarells synonym für das Flüssige und Flüchtige. Mit seinen Arbeiten zwingt Thomas Schiela diese Gegensätze in eine dialektische Verbindung. Dass er ihre Motive aus (Moment-) Photographien bezieht, macht dabei einen zusätzlichen Reiz aus. Schiela zelebriert geradezu die Fragilität und Transparenz des Aquarells. Er feiert die unendlichen Nuancen der Farbe, die vielen Schichten, aus denen eine menschliche Figur, eine Mauer, ein Sonnenschirm oder auch ein Dunstschleier in der Fläche aufgebaut und zu plastischer Wirkung gebracht werden. Er beherrscht souverän alle Möglichkeiten der gegenständlichen Malerei und weiß auf der Klaviatur der Suggestion zu spielen. Aber seine Bilder sind niemals illusionistisch. Seine Position ist - und damit komme ich auf meine erste Lesart zurück - eben doch keine photorealistische. Thomas Schielas Aquarellmalerei löst den Gegenstand im selben Maße auf, indem sie ihn darstellt. Es handelt sich um freie Malerei, veranlasst durch ein photographisch festgehaltenes Motiv.

P.S.
Die Malerei ist zurück. Die alte Königsdisziplin der Kunst, von Theoretikern und Polemikern mehr als einmal für tot erklärt und mit Genugtuung beerdigt, ist lebendiger als je zuvor. Insbesondere die figürliche Malerei erlebt eine große Renaissance - trotz des rasanten Vormarsches der digitalen Bilder, von Handyphotographie, Internet und virtuellen Welten. Oder vielleicht eher deswegen? Fast scheint es, als sei die Malerei, lange Jahre verschrien als unaufrichtig und unzeitgemäß, zur Speerspitze des Neuen und zum Residuum des Authentischen geworden. Auch und gerade dort, wo sie von technisch erzeugten Bildern ausgeht, unterstreicht sie die Unabhängigkeit des menschlichen Sehens von den Apparaten. Sie beweist die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eines hand-werklichen Zugriffs auf die sichtbare Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die mehr und mehr hinter ihren medialen Nach- und Gegenbildern zu verschwinden droht.